Die Geschwindigkeit der Titanic in der Unglücksnacht

Wie schnell war die Titanic in den Stunden vor der Kollision? Einige Passagiere bemerkten, dass die Vibrationen von den Maschinen zugenommen hatten und schlossen daraus, dass die Titanic schneller als jemals zuvor gefahren ist – obwohl auf dem Schiff bekannt war, dass man in der Nähe von Eisbergen und Eis war. Aus dem Umfeld des 2. Offiziers Lightoller, der der ranghöchste Überlebende war, sickerte im 21. Jahrhundert durch, dass die Titanic in der Nacht zum 15. April 1912 einen Geschwindigkeitstest absolvieren sollte. Lässt sich eine Geschwindigkeitssteigerung nachweisen?

Rechnerisch konnte Markus Philipp ermitteln: Von 12 Uhr mittags bis 20 Uhr fuhr die Titanic eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 21,85 Knoten, danach fuhr sie bis zur Kollision mit durchschnittlich 22,5 Knoten [1] und damit so schnell wie nie zuvor. – Leider konnte Markus Philipp diese Erkenntnisse nicht mehr mit der für ihn typischen Beweiskette veröffentlichen, doch er hat zumindest noch genügend Informationen weitergegeben, die eine Herleitung möglich machen.

Die Herleitung auf Basis von Berechnungen von Markus Philipp:

Vom Mittag bis zur Kollision wurden 260sm laut Log zurückgelegt. Ebenfalls laut Log wurde spätestens ab 20 Uhr mit 22,5 Knoten gefahren. – Diese 22,5 Knoten lassen sich auch aus den Positionsberechnungen für die Notrufposition ermitteln:

Die erste Notrufposition, 41° 44‘ Nord, 50° 24‘ West war eine Weiterrechnung der Position von 19:30 Uhr unter Berücksichtigung einer Zeitumstellung von 47 Minuten, wobei diese Zeitumstellung nicht stattgefunden hatte. – Wenn man auf Basis des von Markus Philipp in seiner Serie „Kleines Einmaleins der Navigation“ vermittelten Handwerkzeugs [2] nachrechnet und dabei von einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 21,85 Knoten ausgeht, kommt man auf 50° 25‘ West.

Doch die Titanic korrigierte ihre Notrufposition schon kurz danach. Es gab neue Erkenntnisse: Es hatte noch keine Zeitumstellung gegeben, wodurch sich die zur Verfügung stehende Zeit seit 19:30 Uhr verringerte, und das Geschwindigkeitslog sagte 22,5 Knoten seit 20 Uhr. Außerdem lag die gekoppelte Position von 20 Uhr vor. Die seit 20 Uhr gefahrene Strecke musste Boxhall auf Bogenminuten auf 42° Breite umrechnen. Dafür gab es Tabellen, die Boxhall nutzen konnte. Dabei ist Boxhall in der Spalte verrutscht – richtig wäre gewesen, mit 2° 9‘ zu rechnen, doch Boxhall hat mit dem Wert 2° 24‘ aus der falschen Spalte gerechnet [3]. Durch das Verwenden des Wertes aus der falschen Spalte kam Boxhall auf 50° 14‘ West bei einer Geschwindigkeit von 22,5 Knoten. Hätte er mit dem Wert aus der richtigen Spalte gerechnet, wäre er auf 49° 59‘ West gekommen – bei einer Geschwindigkeit von 22,5 Knoten.

Hätte Boxhall mit 22 Knoten gerechnet und weiterhin mit den Werten aus der falschen Spalte, dann wäre er auf 50° 11‘ West gekommen. – Das Wrack der Titanic liegt übrigens auf 49° 57‘ West.

Die Schlussfolgerung:

Nachdem rechnerisch bestätigt werden konnte, dass die Titanic spätestens seit 20 Uhr mit durchschnittlich 22,5 Knoten fuhr, ist auch klar, dass sie in den Stunden von 12 Uhr mittags bis 20 Uhr entsprechend langsamer unterwegs war, ansonsten hätte sie mehr als die geloggten 260sm zurückgelegt. – Das bedeutet gleichzeitig allerdings auch, dass trotz der bekannten Eiswarnungen die Geschwindigkeit erhöht und die erhöhte Geschwindigkeit auch während der Durchquerung des Eisfeldes beibehalten wurde. Und allein schon die Eiswarnung der Caronia, die unbestritten der Schiffsführung der Titanic bekannt war, zeigte eindeutig an, dass ein ausgedehntes Eisfeld auf dem Weg der Titanic lag

[1] E-Mail von Markus Philipp vom 11. April 2018

[2] Deutscher Titanic-Verein von 1997 e. V., Der Navigator Nr. 72 ff.

[3] Markus Philipp (2003), “Ungereimtheiten der Titanic-Geschichte: Boxhalls Rechenfehler”, Deutscher Titanic-Verein von 1997 e. V., Der Navigator Nr. 4, 6. Jahrgang, Februar 2003, S. 42 ff