Zur Beachtung: Der folgende Beitrag stellt den Forschungsstand 1994 dar. Weder der Film von 1996 (US-Mini-Serie) noch der Blockbuster von 1997/98 waren zu der Zeit bekannt. – Wo es unumgänglich ist, habe ich entsprechende Anmerkungen auf einen neueren Forschungsstand eingefügt.

© 1993: Susanne Störmer

„Auf Wiedersehen, viel Glück“

Auf der Titanic traf Murdoch viele alte Bekannte: Da war natürlich Kapitän Smith, unter dessen Kommando Murdoch seit 1907 ununterbrochen gefahren ist. Auch Doktor O’Loughlin gehörte schon mit zu der Besatzung der Adriatic und später zu der der Olympic. Ebenfalls von der Olympic auf die Titanic versetzt wurden der Assistenzarzt Simpson und der Zahlmeister McElroy. Und der nun schon einige Male erwähnte Lightoller war ebenfalls ein alter Kamerad von Murdoch, auch wenn Lightoller nicht von der Olympic, sondern von der Oceanic kam. Von all diesen überlebte nur Lightoller.

Ursprünglich sollte Murdoch Chief Officer der Titanic werden, doch am Tag der Ausreise zur Jungfernfahrt gab es eine Umbesetzung unter den Senior-Offizieren, weil aus irgendwelchen nie richtig geklärten Gründen Henry Wilde (Chief Officer der Olympic, der allerdings schon von der Olympic heruntergeholt worden war, weil er ein eigenes Schiff erhalten sollte) als Chief Officer auf die Titanic kam. Das bedeutete, dass Murdoch und Lightoller um einen Rang degradiert wurden, während der ursprüngliche 2. Offizier aussteigen musste. Allerdings wurde den betroffenen Offizieren die Zusicherung gemacht, dass diese Degradierung keinen negativen Vermerk in ihren Papieren zur Folge haben würde und man nach der ersten Rundreise die ursprüngliche Ordnung an Bord der Titanic wieder herstellen würde. Ganz abgesehen davon erhielt Murdoch persönlich die Zusage, in Kürze ein eigenes Kommando zu bekommen.

Ada Murdoch wollte übrigens nicht, dass ihr Mann auf der Titanic fuhr – warum das so war, hat sie allerdings nie gesagt. Und auch Doktor O’Loughlin war nur ungern auf dieses Schiff gegangen. Selbst Wilde war überhaupt nicht begeistert davon, dass er auf der Titanic fahren sollte – und es gibt einige Gründe um anzunehmen, dass Lightoller Wilde hasste, und das nicht erst seit der Umbesetzung unter den Offizieren der Titanic.
Bei diesen Voraussetzungen war es vielleicht die unangenehmste aller Jungfernfahrten, die Murdoch mitgemacht hat – ganz abgesehen natürlich vom tragischen Ende der ersten und letzten Fahrt der Titanic.

Als der fatale Eisberg gesichtet wurde, war es zu spät zum Ausweichen – selbst für den besten und smartesten Seemann der Weltmeere, der zugleich zu den reaktionsschnellsten Offizieren gezählt wurde.
Zu dem von Murdoch eingeleiteten aber fehlgeschlagenem Ausweichmanöver („Hart steuerbord, volle Kraft zurück“, wobei „hart steuerbord“ bedeutete, dass das Schiff nach backbord abdrehte): Für diese Befehle hat Murdoch Kritik einstecken müssen [1]. Experten sind der Überzeugung, dass er nur einen der beiden Befehle hätte geben dürfen – entweder das Ruderkommando oder aber das Maschinenkommando. Hätte Murdoch nur das Maschinenkommando gegeben, wäre die Titanic mit dem Bug voraus auf den Eisberg gekracht, und es hätte Hunderte von Verletzten und vielleicht auch einige Tote im Vorschiff gegeben. Aber die Titanic hätte sich schwimmend gehalten. Nur: Dann wäre a) Murdochs Karriere als Seemann beendet gewesen
b) der herausragende Ruf von Kapitän Smith wäre stark in Mitleidenschaft gezogen worden
c) die Titanic, der schon der Ruf eines Unglücksschiffes anhing, wäre endgültig als ein Dampfer, dem das Pech nachläuft, gebrandmarkt gewesen.
Ganz abgesehen von den Konsequenzen, die ein Frontalzusammenstoß für die Menschen im Vorschiff (Auswanderer und Besatzungsmitglieder) gehabt hätte.
Hätte Murdoch nur das Ruderkommando gegeben, wäre die Titanic – nach Meinung der Experten – vom Hindernis freigekommen, ohne Schaden zu nehmen.
Und ein anderer Vorschlag, den Experten Murdoch im Nachhinein gemacht haben: Wenn er schon mit den Maschinen „arbeitet“, dann hätte er doch gefälligst nur die Backbordschraube auf „volle Kraft zurück“ schalten sollen, um damit sein Ruderkommando noch zu unterstützen.
Es gibt sogar Stimmen, die sagen, dass dieser erfahrene Seemann, von dem alle, die ihn – im Gegensatz zu diesen Kritikern – kannten, berichten, dass kaum einer sich in solchen Extremsituationen besser unter Kontrolle hatte, in Panik und wie jemand, der seine Seefahrtskenntnisse aus Abenteuerbüchern hat, gehandelt hat.

Doch: Diese Experten und Kritiker waren in den entscheidenden Sekunden nicht auf der Brücke der Titanic. Keiner kann sagen, wie sich die Situation für Murdoch darstellte, denn von den Menschen, die in jenen Momenten auf der Brücke waren, hat nur der Rudergänger überlebt – und der stand eingeschlossen im Ruderhaus und hat nur seine Kompassnadel gesehen.
Und: Es ist immer noch ungeklärt, wie weit entfernt der Eisberg war, als er gesichtet wurde. Schätzungen gehen von 450 Yards (= ca. 400 Meter) aus. Die Titanic legte bei einer angenommenen Geschwindigkeit von 22 Knoten etwa 11 Meter pro Sekunde zurück, das heisst, für das ganze Ausweichmanöver standen Murdoch ungefähr 37 Sekunden zur Verfügung [2].

Der Eisberg befand sich direkt voraus. Das heißt, Murdoch hätte auch mit dem Befehl „hart backbord“ nach steuerbord ausweichen können – er aber wollte das Ausweichmanöver über Backbordbug fahren. Interessant ist daran: Fast alle Schiffe können schneller nach backbord als nach steuerbord ausweichen, denn in der Regel haben Schiffe rechtsdrehende Schrauben, d. h. die Schrauben drehen sich im Uhrzeigersinn. Dieses wiederum sorgt dafür, dass jedes Schiff mit rechtsdrehenden Schrauben bei Vorwärtsfahrt immer einen leichten Drall nach backbord entwickelt, dem man entgegensteuern muss – den man erforderlichenfalls bei schnellen Ausweichmanövern aber auch ausnutzen kann.
Die Titanichatte eine links- und zwei rechtsdrehende Schrauben, womit auch sie zu den Schiffen gehörte, die bei voller Fahrt voraus schneller nach backbord als nach steuerbord ausweichen konnte.

Und nun zum Maschinenkommando: Bei einer Geschwindigkeit von 18 Knoten brauchte die Titanic ungefähr drei Minuten um abzustoppen, und dabei wurde eine Distanz von ca. 1000 Metern zurückgelegt (das wurde bei der Probefahrt festgestellt).
In den entscheidenden Sekunden aber fuhr die Titanic etwa 22 Knoten. Dass ein Abstoppen hoffnungslos war, muss auch Murdoch bewusst gewesen sein. Doch Murdoch hat vermutlich beabsichtigt, den Eisberg über Backbordbug zu umfahren. Das schloss mit ein, dass er irgendwann den Bug nach steuerbord drehen lassen musste. Bei einem Schiff mit einer Überzahl an rechtsgängigen Schrauben geht ein Abdrehen nach steuerbord schneller bei Rückwärtsfahrt. [3]
Das Kommando „volle Kraft zurück“ hiess für die Ingenieure im Maschinenraum, dass zuerst die Maschinen abgestoppt, umgeschaltet und dann wieder angefahren werden mussten. So eine Aktion hat in der Regel etwa 30 Sekunden gedauert – d. h. das Maschinenkommando wurde erst mit deutlicher Verzögerung wirksam, während das Ruderkommando naturgemäß schneller ging.
Wenn man sich dann noch vorstellt, welche Überraschung das plötzliche Maschinenkommando bei den diensthabenden Ingenieuren, die sicherlich schon damit beschäftigt waren, Vorbereitungen für eine weitere Steigerung der Geschwindigkeit am nächsten Tag zu treffen, ausgelöst haben muss, kann man davon ausgehen, dass während der meisten Zeit des Ausweichmanövers, das Murdoch gerne vorgeworfen wird, noch gar nicht ausgeführt war, also nur das Ruderkommando wirksam war.
Ganz abgesehen davon gab es immer leise Stimmen, die gesagt haben, dass die Titanic – wegen ihrer großen Masse – nur langsam dem Ruder gehorchte, wahrscheinlich auch ein Faktor, der über Streifen oder Klarsteuern entschieden hat [4]. Eventuell war das sogar der Punkt, der Murdochs Ausweichmanöver scheitern ließ, wenn auch nur ganz knapp, denn die Titanic hat den Eisberg ja lediglich relativ leicht berührt.
Lightoller, der Murdoch besser gekannt hat als alle Experten zusammen, war übrigens der Überzeugung, dass, wenn es auch nur eine halbe Chance zum Ausweichen gegeben hätte, Murdoch es geschafft hätte.

In der Zeit nach der Kollision bis zum Untergang zeigte Murdoch eine extreme Selbstbeherrschung – unerschüttert tat er seine Pflicht, und doch muss ihn die Tatsache, dass die Kollision während seiner Wache passiert ist, innerlich belastet haben.
Überlebende Besatzungsmitglieder hoben später immer wieder hervor, dass Murdoch ruhig und gelassen gewirkt habe. Dabei muss dem 1. Offizier schon sehr früh klar gewesen sein, dass die Titanic verloren war. Vom 3. Offizier Pitman, dem er das Kommando über Boot 5 (eines der ersten Boote, das gefiert wurde) übertrug, verabschiedete er sich, indem er Pitman die Hand reichte und lächelnd sagte:
„Auf Wiedersehen, viel Glück!“
Pitman ging zwar davon aus, dass er Murdoch wiedersehen würde, doch er gab zu, dass Murdoch bei diesem Abschied ganz und gar den Eindruck erweckte, dass es dem 1. Offizier klar war, dass es kein Wiedersehen mehr geben würde. Schon da muss Murdoch also gewillt gewesen sein, die Titanic nicht mehr zu verlassen – und trotzdem hat er noch für ungefähr 75 Minuten weiterhin seine Pflicht getan, gelassen und unerschüttert. Vielleicht hat Murdoch niemals eindrucksvoller seine Selbstkontrolle, Selbstdisziplin und Härte gegen sich selbst unter Beweis gestellt als in den letzten zwei Stunden und 40 Minuten seines Lebens.

Auch die eingangs erwähnte Szene bei einem Rettungsboot, wo Murdoch über den korpulenten Passagier, der sich unbeholfen über die Reling in das Boot rollen lässt, herzlich lacht und sagt: „Das ist der komischste Anblick, den ich heute Nacht gesehen habe!“ passt in das Bild [5]. Und wenn man will, kann man sogar gewisse Selbstironie hineininterpretieren.
Das Murdoch bestrebt war, die Boote so voll wie nur möglich zu beladen, kann man daran erkennen, dass an der Steuerbordseite, die beim Einbooten Murdochs Kommando unterstand, die Regel galt: „Frauen und Kinder zuerst. Und wenn dann noch Platz ist, können Männer den auffüllen.“ Während es an der Backbordseite hieß: „Frauen und Kinder zuerst. Männer zurücktreten.“
Auch waren steuerbord alle Boote schneller gefiert als an Backbord. Es könnte also durchaus so gewesen sein, dass Murdoch – nachdem alle Boote vom Bootsdeck an der Steuerbordseite gefiert worden waren – nach backbord gegangen ist, wo zu dem Zeitpunkt (etwa eine halbe Stunde vor dem Untergang) noch drei Boote zu fieren waren. Überlebende Besatzungsmitglieder haben auch ausgesagt, dass sie Murdoch an backbord gesehen haben.

Aber was ist mit den Berichten von den wenigen Überlebenden, die gesehen haben wollen, dass ein Offizier sich kurz vorm Untergang erschossen hat? Die Rede ist überwiegend von „einem Offizier“ oder vom Chief Officer (allerdings bezeichneten viele überlebende Besatzungsmitglieder Murdoch als „Chief Officer“, obwohl er es seit dem Tag der Ausreise nicht mehr war), nur ein Mal wird der Name „Murdoch“ direkt genannt. Ein Motiv (zumindest aus deutscher Sicht, die Briten haben in solchen Dingen eine etwas andere Einstellung) hätte er gehabt. Doch passt so eine Handlung zu einem Menschen wie William McMaster Murdoch, der vorher gelassen, ruhig, unerschüttert und kontrolliert war?

Dumfries & Galloway Standard & Advertiser vom 11. Mai 1912:

Mrs. Murdoch, die Witwe des verstorbenen Kapitänleutnant Murdoch, 1. Offizier des unglücklichen Liners, hat folgenden Brief erhalten: Hotel Continental, Washington, 24. April 1912:
Sehr geehrte Mrs. Murdoch. – Ich schreibe im Auftrag von den überlebenden Offizieren, um unser aufrichtiges Beileid zu diesem, Ihrem schrecklichen Verlust auszudrücken. Worte  können unsere Gefühle nicht ausdrücken – ein Brief noch weniger. Ich bedaure zutiefst, dass ich es verpasst habe, mit Ihnen mit der letzten Post zu kommunizieren, um die Berichte, die in den Zeitungen verbreitet wurden, zurückzuweisen. Ich war praktisch der letzte Mann und sicherlich der letzte Offizier, der Mr. Murdoch gesehen hat. Er war dann bemüht, das vordere Steuerbord-Faltboot zu Wasser zu lassen. Ich hatte meines bereits vom Dach der Offiziersquartiere herunter. Sie werden besser verstehen, wenn ich sage, dass ich an backbord arbeitete und Mr. Murdoch war überwiegend an der Steuerbordseite des Schiffes beschäftigt, Boote zu beladen und zu Wasser zu lassen. Nachdem ich mein Boot vom Dach der Offziersquartiere herunter hatte, war keine Zeit da, es zu öffnen, ich ließ es zurück und lief rüber zur Steuerbordseite, immer noch auf dem Dach der Offiziersquartiere. Ich sah dann praktisch auf Ihren Ehemann und seine Männer herab. Er arbeitete hart, assistierte persönliche, holte das vordere Fall vom Boot über.  In diesem Moment tauchte das Schiff und wir waren alle im Wasser. Andere Berichte das Ende betreffend sind absolut falsch. Mr. Murdoch starb wie ein Mann seine Pflicht tuend. Wenden Sie sich ophne zu zögern für alles, was wir für Sie tun können, an uns. –
Sehr hochachtungsvoll, (unterschrieben) C. H. Lightoller, 2. Offizier, G. [sic!] G. Boxhall, 4. Offizier, H. J. Pitman, 3. Offizer, H. G. Lowe, 5. Offizier.

Erstveröffentlichung: Titanic-Post Nr. 7 des Titanic-Verein Schweiz, März 1994

Korrekturen/Ergänzungen:

[1] Welche Befehle beim Ausweichmanöver wirklich gegeben wurden, wird in meinem Buch „Dampfer Titanic: Eisberg voraus“ näher untersucht. Es gibt keinen einzigen Zeugen aus dem Maschinenraum, der den Befehl „volle Kraft zurück“ auf dem Maschinentelegraphen gesehen haben will, und keiner der Überlebenden berichtet von Auswirkungen, die ein hartes Ruderkommando gehabt hätte. Von daher ist die folgende Diskussion des Ausweichmanövers auf dem Stand von 1993.
[2] Auch mit der Entfernung des Eisbergs von der Titanic setzt sich mein Buch „Dampfer Titanic: Eisberg voraus“ auseinander.
[3] Die Titanic hatte drei Schrauben. Von den beiden äußeren Schrauben, die von den Dampfmaschinen angetrieben wurden, war eine linksdrehend, die anderen rechtsdrehend. Die mittlere Schraube, die von der Turbine angetrieben wurde, war ebenfalls rechtsdrehend. Allerdings ließ sich die mittlere Schraube nicht auf Rückwärtsfahrt stellen, so dass von dieser Schraube kein Drall mehr ausging – und die Titanic bei Rückwärtsfahrt ein Schiff mit einer linksdrehenden und einer rechtsdrehenden Schraube war, deren Effekte sich bei gleicher Umdrehungszahl gegenseitig aufhoben.
[4] Das Schwesterschiff der Titanic, die Olympic, war so gut wie gleich groß und verfügte über ein Ruder gleicher Größe. 1918 rammte und versenkte die Olympic ein deutsches U-Boot, und der U-Boot-Kommandant war überrascht, wie schnell die Olympic ihren Kurs ändern konnte. Bei der Olympic war das Ruderblatt offenbar groß genug, um schnelle Ruderkommandos auszuführen. Deswegen sollte es auch bei der Titanic ausreichend dimensioniert gewesen sein.
[5] Dieses Zitat wird generell Murdoch zugeschrieben, doch es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der 5. Offizier Lowe gewesen, der die Aktion des Passagiers in dieser Form kommentiert hat. – Der Passagier selbst, der dieses Erlebnis berichtet hat, hat den Offizier nicht namentlich benannt. Es geschah an Boot 1, und vor dem britischen Untersuchungsausschuss übernahm Lowe die volle Verantwortung für das Beladen und Fieren von Boot 1.